Seit 20 Jahren verhandeln die EU und die südamerikanischen Mercosur-Staaten über ein Freihandelsabkommen – es wäre das Größte, das Europa je abgeschlossen hat. Jetzt sollen die Gespräche genutzt werden, um auf die Einhaltung von Umwelt- und Menschenrechtsstandards in Brasilien zu drängen. Das fordern 600 Wissenschaftler und 300 indigene Gruppen in einem offenen Brief. „Es bleibt abzuwarten, ob die EU mutig genug ist, um wirklich etwas zu bewegen“, sagt dazu Europaabgeordneter Bernd Lange (SPD).

Es könnte das größte Freihandelsabkommen werden, das die EU bislang abgeschlossen hat – vier Mal größer, als jenes mit Japan. Doch bis zum möglichen Abschluss des Vertrags mit den Mercosur-Staaten – Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay – gibt es noch viel zu klären. Ganz oben auf der Agenda sollten Umwelt- und Menschenrechtsstandards in Brasilien stehen, fordern jetzt 600 Wissenschaftler aus ganz Europa in einem offenen Brief an die EU.

„Die brasilianische Politik hat ein angsteinflößendes Level erreicht. Die EU darf nicht länger nur zusehen“, sagt Laura Kehoe, Biologin an der Universität Oxford und Initiatorin des Aufrufs zu EURACTIV.

Der Amazonas wird in Brasilien derzeit so schnell abgeholzt, wie zuletzt vor zehn Jahren. Als Gründe dafür gelten die Aufweichung vieler Umweltschutzgesetze durch die Regierung von Jair Bolsonaro, der schwache brasilianische Real, sowie die gestiegene Nachfrage nach Produkten wie Soja und Rindfleisch.

Das Land ist der größte Exporteur landwirtschaftlicher Produkte in die EU. „Wir wissen aber kaum etwas darüber, woher die Produkte genau stammen und welche Auswirkungen ihre Herstellung vor Ort hat“, so Kehoe. Deshalb fordern die Wissenschaftler, die genaue Herkunft der Güter müsse besser nachvollziehbar gemacht werden.

Für Brasilien ist die EU nach China der zweitgrößte Handelspartner. Europas Stimme habe also Gewicht, vor allem der landwirtschaftliche Sektor in Brasilien setze auf gute Handelsbeziehungen, sagt Tiago Reis, der an der Université Catholique de Louvain einen PhD zu landwirtschaftlichen Lieferketten macht. „Der Agrarwirtschaft hört Bolsonaro zu“, so Reis.

Gleichzeitig rufen die Wissenschaftler dazu auf, dem Schutz der indigenen Bevölkerung größere Bedeutung beizumessen. 300 indigene Gruppen haben den Brief der Wissenschaftler ebenfalls unterschrieben. Sie haben eine zentrale Rolle im Kampf für die Umwelt, ihre Reservate gelten als effektivster Schutz gegen die Entwaldung. Derzeit geraten sie jedoch zunehmend unter Druck. Etwa wurde die Aufsicht über die Reservate bereits weg von der Indigenen-Agentur Funai hinein ins Landwirtschaftsministerium verlagert.

Test für eine neue Art von Freihandelsvertrag

Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten laufen bereits seit über 20 Jahren und sollten nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Kontinente stärken, sondern auch die geopolitische Zusammenarbeit verbessern. Ende 2018 wurden Gerüchte laut, die Verhandlungen könnten bald erfolgreich abgeschlossen werden.

„Ich sehe nicht, wie die EU die Verhandlungen mit Brasilien derzeit weiterführen kann. Die EU-Kommission muss ihre Strategie überdenken, wenn sie es ernst meint mit ihren Zielen in puncto Nachhaltigkeit“, sagt Heidi Hautala (Grüne Fraktion), Vize-Präsidentin des Europäischen Parlaments, die den Brief der Wissenschaftler mitunterzeichnet hat.

Einerseits würde gute Arbeit im Kampf gegen Abholzung geleistet, andererseits könne diese durch undurchdachte Handelspolitik schnell wieder zunichte gemacht werden. Es müsse ein kohärenter Weg gefunden werden, so die finnische Politikerin. „Die Verhandlungen mit Mercosur sind ein Test, wie weit die EU ihre Nachhaltigkeitsziele in Freihandelsverträgen umsetzen kann“, sagt Hautala gegenüber EURACTIV. Die Ziele dürften nicht mehr nur als bloßes Extra betrachtet werden.

Derzeit fehle es an Sanktionsmechanismen als Teil dieser neuen Kategorie von Handelsverträgen. Das kürzlich abgeschlossene Abkommen mit Vietnam bezeichnet Hautala als Schritt in die richtige Richtung, da es ein Kapitel beinhaltet, das die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien zur Kondition für den Holzexport macht. Nun müssten weitere durchsetzungskräftige Schritte folgen.

„Es bleibt abzuwarten, ob die EU mutig genug ist, um wirklich etwas zu bewegen“, sagt dazu Europaabgeordneter Bernd Lange (SPD).

Gemeinsam mit einer Gruppe weiterer Abgeordneter verfasste er Ende März einen Brief an Handelskommissarin Malmström, in dem sie Bedenken über die aktuellen Entwicklungen in Brasilien äußerten. Etwa müsse die Implementierung der Pariser Klimaziele eine Voraussetzung für die Ratifizierung neuer Handelsverträge sein. Bolsonaro hatte jedoch wiederholt durchklingen lassen, er schließe es nicht aus, aus den Verträgen auszusteigen.

Der Brief der Wissenschaftler und der indigenen Gruppen zeige deutlich, wie wichtig es sei, den Druck auf die brasilianische Regierung jetzt zu verstärken, so Lange.

Aktionsplan soll Lieferketten umgestalten

Die Europäische Kommission arbeitet währenddessen an einem Fahrplan für eine neue Strategie, die sicherstellen soll, dass die europäische Handelspolitik nicht zu Entwaldung in Drittstaaten führt. Dazu müssen Lieferketten nachhaltiger gestaltet werden, denn rund 80 Prozent der weltweiten Entwaldung kann zumindest indirekt auf die Produktion von Rohstoffen wie Soja, Rindfleisch, Palmöl, Kaffee und Kakao zurückgeführt werden, so die Begründung der Kommission. Sie hat angekündigt, in den kommenden Wochen einen Aktionsplan auf den Tisch zu legen.

Die Erarbeitung nachhaltiger Lieferketten ist nicht zuletzt entscheidend, weil der Agrarsektor mit über 20 Prozent des BIP ein wichtiger Motor für Brasiliens Wirtschaft ist.

Wird die Produktion umweltverträglich aufgestellt, profitiert das Land, so Bernardo Strassburg, Gründer des Internationalen Instituts für Nachhaltigkeit in Rio de Janeiro. Doch aktuell verursache die landwirtschaftliche Expansion vielerorts eine Zunahme an Entwaldung, Konflikte über die Verteilung von Grund und Boden intensivieren sich.

Dabei würde die Expansion der Landwirtschaft auch ohne weitere Rodungen gelingen, wenn das volle Potential des bereits abgeholzten Landes genutzt werden würde, betonen die Wissenschaftler in ihrem offenen Brief.

Angesprochen auf die Forderungen antwortete ein Kommissionssprecher gegenüber EURACTIV, man beziehe sie in die laufende Arbeit ein. In der letzten Verhandlungsrunde Mitte März in Buenos Aires seien Fortschritte gemacht worden. Es bleibe jedoch viel zu tun. Die Gespräche würden so schnell wie möglich fortgesetzt, um einen Konsens über die noch offenen Punkte zu erreichen. „Die Verhandlungsteams werden sich bald wieder treffen, um nach einem Konsens über die noch offenen Punkte zu suchen“, heißt es aus der Kommission.